Polyphonie – Eine Sprache, viele Stimmen
Themenbeschreibung des 12. Deutschen Lusitanistentages
13. bis 16. September 2017, Johannes Gutenberg-Universität in Mainz
Der lusophone Raum verfügt über eine gemeinsame und verbindende Sprache, das Portugiesische. Er konstituiert sich jedoch durch den Ausdruck vielfältiger ‚Stimmen’, die seine unterschiedlichen sprachlichen Varietäten, seine Kulturen und Identitäten hervorbringen und ihn als äußerst heterogen ausweisen. Als „in der Einheit verschieden“ lässt sich die plurizentrische Sprachkultur der lusophonen Welt und deren Gesellschaften, die gemeinsame historisch bedingte Zusammenhänge aufweisen, jedoch gleichzeitig durch eine außerordentlich große kulturelle Vielfalt und sprachliche Variation gekennzeichnet sind, treffend charakterisieren. Der aus der Musik stammende Begriff der Polyphonie, der mit Bachtin Eingang in die Philologie gefunden hat und hier wie da für Mehrstimmigkeit steht, charakterisiert treffend die Realität der portugiesischsprachigen Welt. Dies gilt nicht nur, wenn man sie unter Einbezug mit dem Portugiesischen verwandter oder nicht verwandter Sprachen denkt – wie in Europa das Galicische, in den vielfältigen Kontaktsituationen afrikanische, indigene, europäische und asiatische Sprachen – sondern auch, wenn man Brasilien und diejenigen afrikanischen und asiatischen Staaten einbezieht, die Portugiesisch als offizielle oder ko-offizielle Sprache und unterschiedliche Varietäten und Normen des Sprachgebrauchs, unterschiedliche Diskurse, kulturelle Manifestationen und Literaturen ausgebildet haben. Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt sind nicht nur in Brasilien, sondern auch insbesondere in Asien und Afrika eine Realität, die der Linguistik noch viel Forschungspotential bietet, ebenso wie die vielfältigen Varietäten des Portugiesischen selbst. Mehrsprachigkeit und Heterogenität des Portugiesischen sind Manifestationen der Komplexität jener Welt, in der Portugiesisch das offizielle Ausdrucksmittel ist, in der die Stimmen auch zu einer konvergieren können, – wie z.B. durch Kreolisierung – um erneut unterschiedliche Varietäten auszudifferenzieren.
In der Literatur wird der Begriff der Polyphonie für Polyperspektivismus herangezogen, ein Strukturprinzip der erzählenden Literatur, bei der unterschiedliche Sichten auf die Ereignisse der Diegese durch konkurrierende figurale Perspektiven erzeugt werden oder in denen die Stimmen der Figuren mit jener des Erzählers und/oder Autors konkurrieren. Dieses Prinzip tritt bereits vor dem 20. Jahrhundert auf, ist jedoch durch das veränderte Selbstverständnis des Autors in der Moderne und der Postmoderne besonders produktiv geworden. Die Heterogenität der Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Facetten ist eine Konstante in den Literaturen der portugiesischsprachigen Länder, die man in allen Gattungen und Epochen wiederfindet. Man denke an die Vielschichtigkeit des lyrischen Ichs in den mittelalterlichen cantigas oder das Werk des Gründers des portugiesischen Theaters Gil Vicente, aber auch an die Mehrstimmigkeit jener Gedichte des Widerstands oder der gesellschaftlichen Subversion durch Rückgriff auf uneigentliche Rede oder an die unterschiedlichen Stimmen in gesellschaftlich engagierten Theaterstücken. Bei Fernando Pessoa nimmt die Polyphonie Gestalt durch die einzelnen Heteronyme an, die individuelle Biographien und unterschiedliche ästhetische Programme verkörpern. Die lusophone Welt erscheint als ein multikulturelles Mosaik, das jedoch bis heute viel zu wenig vor dem Hintergrund moderner kulturwissenschaftlicher Ansätze reflektiert wurde.
Migration und Exil sind Konstanten innerhalb der portugiesischsprachigen Welt. Der daraus resultierende mehrstimmige Identitätsdiskurs bietet enormes Forschungspotential sowohl aus der Perspektive nationaler und sich herausbildender transnationaler Gesellschaften, als auch in kontrastiver Perspektive.
Auch für die Fachdidaktik und die Translationswissenschaft des Portugiesischen besitzt das Thema der Polyphonie Relevanz und gilt als besondere Herausforderung. Der Fremdsprachenerwerb ist eng an die Globalisierung der modernen Welt und ihre kommunikativen Notwendigkeiten gebunden, es stellen sich Fragen nach der Präsenz von Varietäten und Kontaktsituationen im Erwerb des Portugiesischen als Zweitsprache. Politische, wirtschaftliche, kulturelle und ökonomische Aspekte der globalen Welt machen Übersetzen und Dolmetschen zu komplexen Handlungen, die fremde Stimmen in eine ‚andere’ Sprache transponieren, ohne dass sie dabei verlorengehen.
Die Polyphonie ist ein Begriff, der Sprache, Literaturen und Kulturen der portugiesischsprachigen Länder und Galiciens prägt und deren elementarer Bestandteil ist. Das Thema „eine Sprache, viele Stimmen“ ist daher von großer Relevanz, bietet eine Plattform für aktuelle und brisante Diskussionen und ermöglicht, die Lusitanistik auch in interdisziplinäre Zusammenhänge zu stellen, so dass Mehrstimmigkeit auch durch solche Forschungen erzeugt werden kann, die sich über die Grenzen des Faches hinweg entfalten.
Mit der Tagung möchten der DLV und die Johannes Gutenberg-Universität eine Plattform bieten, die viele Stimmen zur Polyphonie in den unterschiedlichsten Ausprägungen und aus Sicht verschiedener Fachbereiche zu Wort kommen lassen wird. Wir freuen uns daher auf zahlreiche Sektionen aus den unterschiedlichen Disziplinen.
Bitte schicken Sie Ihre Sektionsvorschläge bis zum 31.08.2016 an die Präsidentin des Deutschen Lusitanistenverbandes Prof. Dr. Kathrin Sartingen (kathrin.sartingen(at)univie.ac.at).
Yvonne Hendrich, Gunther Kunze, Benjamin Meisnitzer und Martina Schrader-Kniffki,
Mainz im Februar 2016