Notstand

Hans Rheinfelder (†, München)

Vom Notstand der Romanischen Philologie

[1960]

Die deutschen Universitäten haben Lehrstühle für Deutsche Philologie; an den Höheren Schulen Deutschlands gibt es Deutsch-Unterricht. Die Universitäten haben Lehrstühle für Englische Philologie; an den Höheren Schulen gibt es Englisch-Unterricht. Die Universitäten haben Lehrstühle für Romanische Philologie, d. h. für die Geschichte der neun romanischen Sprachen und Literaturen; an den Höheren Schulen gibt es Unterricht im Französischen, Spanischen und Italienischen: im Französischen als Pflichtfach (in Bayern auch im Spanischen); in allen drei Sprachen als Wahlfach. Diese Gegenüberstellung der Deutschen, Englischen und Romanischen Philologie und ihrer Ausstrahlung auf die Schule läßt sofort eine Unstimmigkeit sichtbar werden.

Als im Jahre 1888 der Professor der Neueren Philologie an der Universität Heidelberg, Dr. Karl Bartsch, starb, wurden aus seinem Lehrstuhl drei selbständige Lehrstühle gebildet: einer für Deutsche Philologie, einer für Englische Philologie, einer für Romanische Philologie. So fruchtbar die Zusammenschau dieser drei Philologien sich in den vorhergehenden Jahrzehnten erwiesen hatte, so war doch bei der wachsenden Entfaltung und Vertiefung ihrer Forschungsgegenstände längst offenbar geworden, daß es nicht mehr einem einzelnen Forscher zugetraut und zugemutet werden konnte, auf allen drei Gebieten, forschend und lehrend, in gleicher Weise Großes zu leisten. Nach wenigen Jahren zeigte sich bereits, daß die Philologie der Muttersprache und der heimischen Literatur abermals eine Zerteilung erforderlich machte. So haben die deutschen Universitäten schon bald eigene Lehrstühle einerseits für Deutsche Philologie im engeren Sinne, d. h. für Deutsche Sprachwissenschaft, und andererseits für Deutsche Literaturgeschichte bekommen, wobei an einzelnen Universitäten auch die mittelalterliche und die neuere Literatur eigenen Professoren zugewiesen wurden. Was die Englische Philologie betrifft, so haben ihre Vertreter es ebenso wie die Professoren der Deutschen Philologie mit der Geschichte nureiner Sprache und nureiner Literatur zu tun. Tatsächlich haben die Anglisten der deutschen Universitäten bis in das zweite Drittel unseres Jahrhunderts in Lehre und Forschung meist gleichmäßig Sprachgeschichte und Literaturgeschichte betrieben. Aber es zeigte sich doch, daß bei der fortgeschrittenen Entwicklung dieser Fächer künftig jeder nur noch eines der beiden Gebiete gründlich vertreten kann, so daß heute praktisch bereits die gleiche Zweiteilung wie in der Deutschen Philologie vorgenommen ist, wenn dies auch in getrennten Bezeichnungen noch nicht zum Ausdruck kommt.

In der Romanischen Philologie hat sich seit 1888 nichts Wesentliches geändert. Es war schon damals klar, daß ein einzelner Forscher und Lehrer sich nicht gleichmäßig um alle neun romanischen Sprachen und Literaturen kümmern konnte. Im Vordergrund stand überall das Französische. Der französischen Sprachgeschichte und der französischen Literaturgeschichte wurden fortlaufend Vorlesungen gewidmet, die meist nach einem Zyklus von acht Semestern sich wiederholten. Bedenkt man, daß die Normalvorlesung vierstündig gehalten wurde und zu den beiden Vorlesungen aus Sprach- und Literaturgeschichte noch ein zweistündiges Seminar hinzukam, so erweist sich, daß die Belastung des Romanisten – wie übrigens auch des Anglisten – mit zehn Wochenstunden nicht unerheblich war. Nun trug aber der Romanist in seiner Forschungs- und Lehrverpflichtung auch den Auftrag für die acht anderen romanischen Sprachen und Literaturen. Das Altprovenzalische wurde in der Regel gelegentlich im Rahmen des Altfranzösischen behandelt. Aus den anderen romanischen Sprachen pflegte sich der Romanist eine oder zwei nach seiner Neigung auszuwählen und darüber auch gelegentlich eine kleine Vorlesung zu halten. Wenige kümmerten sich um das Rumänische, noch weniger um das Katalanische, um das Rätoromanische, um das Sardische, um das Neu-Provenzalische. Auch Sprache und Literatur Portugals oder gar Brasiliens wurden fast vernachlässigt. Eigentlich waren es nur das Italienische und das Spanische, die nicht ganz dem Lektor überlassen blieben, sondern gelegentlich auch in einer Vorlesung des Ordinarius zu Wort kamen. Mein eigener Lehrer, Karl Vossler, pflegte sechs Stunden zu lesen. In einem Turnus von acht Semestern gab er zuerst eine vierstündige sprachgeschichtliche Vorlesung, es folgten in den nächsten Semestern vierstündige Vorlesungen über die französische Literatur des Mittelalters und der folgenden Epochen, hinzu kam jeweils eine zweistündige Seminarübung. Nur als er in München an der zweiten Auflage seines Dante-Werkes arbeitete, als er seinen Leopardi und seinen Lope de Vega schrieb, las er zusätzlich ein einstündiges Publikum über diese Dichter der italienischen und spanischen Literatur. Für die linguistischen Vorlesungen des Französischen hatte er sich damals Eugen Lerch zu Hilfe gerufen, während zugleich auch Leo Jordan der linguistischen Seite des Faches sein Augenmerk zuwandte.

Es war also von Anfang an ein unbehaglicher Zustand, daß der Romanist zwar für alle neun Sprachen und Literaturen bestallt war, aber nur einem Teil seines Faches sich in Lehre und Forschung widmen konnte. Dies findet bis heute auch in den Doktorprüfungen seinen Ausdruck; prüft der Anglist im Hauptfach, so stellt er Fragen aus seinem ganzen Fach, d. h. aus Sprachgeschichte und Literaturgeschichte; prüft der Romanist im Hauptfach, so stellt er in München Fragen aus einem Sechstel seines Fachgebietes, d. h. aus Sprachgeschichte und Literaturgeschichte einer der neun Sprachen, sowie aus Sprachgeschichte oder Literaturgeschichte einer zweiten romanischen Sprache. Bei einer Prüfung im Nebenfach ist das Mißverhältnis noch krasser.

Es ist nun aber allgemein bekannt, wie sehr neben dem Französischen auch andere romanische Sprachen heute in den Vordergrund gerückt sind, besonders das Spanische, das Italienische und das Portugiesische. Dabei spielt vor allem die starke Entwicklung der süd- und mittelamerikanischen Literatur und die wirtschaftliche Bedeutung Iberoamerikas eine große Rolle. Was das Italienische anbetrifft, so wird man zugeben, daß keine Literatur Europas der italienischen an formender Kraft gleichkommt. Man denke sich nur einmal aus den anderen Literaturen die italienischen Einflüsse weg: den Humanismus und das Sonett, Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariost, Tasso, – um nur einige Fanale zu nennen. Welche andere europäische Literatur hat so starke Ausstrahlungen aufzuweisen!

Diesem Sachverhalt ist in den meisten Ländern außerhalb Deutschlands und Österreichs auch an den Universitäten früher oder später Rechnung getragen worden, indem man eigene Lehrstühle für italienische, spanische, portugiesische Literaturgeschichte errichtete. Es ist durchaus in der Ordnung, daß an einer großen Universität Semester für Semester Ordinarien Vorlesungen über chinesische, japanische, indische Sprache und Literatur, über Ägyptologie, über Assyriologie abhalten. Aber ebenso wichtig erscheint es heute, daß auch die italienische, die spanische, die portugiesische Sprache und Literatur durch einen Ordinarius Semester für Semester in Vorlesungen und Übungen angeboten wird. Es liegt auf der Hand, daß dies ein Ordinarius für Romanische Philologie nicht alles bewältigen kann. Heute sind neben dem Französischen auch das Italienische und das Spanische begehrte Fächer für das Staatsexamen. Die Studenten müssen auch aus italienischer und spanischer Literaturgeschichte Vorlesungen hören und den Besuch entsprechender Seminarübungen nachweisen. Es ist also heute dem Romanisten leider nicht mehr möglich, in einem fortlaufenden Zyklus die Geschichte der französischen Literatur zu behandeln, er muß sich auch der italienischen und der spanischen in seiner Lehrtätigkeit zuwenden. Es sei mir gestattet, aus meiner eigenen, derzeitigen Lehrtätigkeit das erläuternde Beispiel zu nehmen: der Gegenstand meiner Hauptvorlesung war im vorigen Semester die Geschichte des französischen Wortschatzes, im laufenden Semester französische Literatur des 17. Jahrhunderts, im nächsten Semester gedenke ich die italienische Literatur vor Dante, in den zwei folgenden Semestern die spanische Literatur des Goldenen Zeitalters und dann wieder ein Jahrhundert der französischen Literaturgeschichte zu behandeln. Ebenso buntscheckig werden die je zwei Oberseminare jedes Semesters abwechseln müssen, wozu noch ein portugiesisches Seminar kommen muß, das von einigen Studenten benötigt wird. Man achte nun auf die Kehrseite dieser Mannigfaltigkeit, d. h. man führe sich ins Bewußtsein, auf wieviel der Student des Französischen, des Italienischen, des Spanischen, des Portugiesischen verzichten muß, so lange ein einzelner all diesen Aufgaben nachkommen soll! Man führe sich des weiteren ins Bewußtsein, wieviele Sprachen und Literaturen meines Lehrauftrags in dieser Planung beim besten Willen unberücksichtigt bleiben!

Mit Recht sind wir Deutsche stolz auf die Grundlagen, die Wilhelm von Humboldt für unsere Universität geschaffen hat. Andere Völker haben sie von uns übernommen und haben darauf systematisch weitergebaut. Wir Deutsche dagegen sind im stolzen Bewußtsein unseres Besitzes immer wieder in Gefahr, uns mit diesen Grundlagen zufrieden zu geben und darauf behaglich einzuschlafen. Wer, wie ich, Gelegenheit hatte, an Universitäten Nord- und Südamerikas, an Universitäten der meisten europäischen Länder, auch Sowjetrußlands, Vorlesungen zu halten, der wird mir recht geben, wenn ich sage: Wir Deutsche haben schon lange keinen Grund mehr, auf unsere Universitäten stolz zu sein. Was in unserem besonderen Falle die Ausbildung der Lehrer der Höheren Schulen für den Unterricht im Französischen, Spanischen und Italienischen anbelangt, so stehen wir unmittelbar vor dem Bankrott. Hier darf der Hochschullehrer nicht schweigen, er wird bis zum Augenblick dieses Bankrotts nicht aufhören, seinen SOS-Ruf in alle deutschen Lande ergehen zu lassen, gegen alle Hoffnung hoffend, es könnte vielleicht doch noch der Bankrott verhütet werden. Dabei will er gar nicht auch daran erinnern, daß es nicht nur um die Schule, sondern auch um die hohe Politik geht. Den Kalten Krieg gewinnt und verliert ja nicht der Soldat, sondern der Schulmeister, d. h. dasjenige Volk, das am sorgfältigsten bzw. lässigsten sein Schulwesen pflegt – das ganze Schulwesen sage ich; und von den Höheren Schulen muß dann im Anschluß an die Universitäten und vom Standpunkt des Hochschullehrers aus noch ein eigenes Klagelied gesungen werden.

Die Rückständigkeit der deutschen Universität im Hinblick auf die romanischen Sprachen möge nun durch ein paar Ziffern verdeutlicht werden. Ich vergleiche miteinander die Zustände an der größten Universität Frankreichs, der Sorbonne in Paris, und der größten Universität Deutschlands, München, mit jetzt mehr als 18 000 Studierenden (darunter mehr als 950 für Französisch, etwa 120 für Spanisch, etwa 120 für Italienisch, kleinere Gruppen für andere romanische Sprachen). Die Universität München sollte den Ehrgeiz haben, die deutsche Sorbonne zu sein. Aber wie sieht es in Wirklichkeit aus! In der folgenden Gegenüberstellung handelt es sich für Paris und München um den Stand vom Januar 1960. Daß die Sorbonne 12 Lehrstühle für französische Literaturgeschichte und 3 Lehrstühle für französische Sprachgeschichte besitzt, wird uns bei der Muttersprache nicht verwundern (ein Vergleich mit dem Zustand der deutschen Literaturgeschichte und der deutschen Sprachgeschichte an den deutschen Universitäten geht uns Romanisten nichts an). Aber Paris hat 7 Lehrstühle für deutsche Literaturgeschichte, einen für deutsche Sprachgeschichte: München hat weder für französische Literaturgeschichte noch für französische Sprachgeschichte auch nur einen einzigen Lehrstuhl! München hat auch keinen Lehrstuhl für spanische Literaturgeschichte (Sorbonne: drei), auch keinen für italienische (Sorbonne: zwei), auch keinen für portugiesische (Sorbonne: einen), auch keinen für rumänische (Sorbonne: einen), auch keinen für katalanische (Sorbonne: einen), auch keinen für provenzalische (Sorbonne: einen). Dafür hat München zwei Lehrstühle für alle neun Sprachen und Literaturen zusammengenommen, und von diesen zwei Lehrstühlen ist der eine bereits seit 5 Semestern unbesetzt … Wem bei der Lektüre dieser Gegenüberstellung nicht die Haare zu Berge stehen, der mag unsere Schulen schließen und den Kalten Krieg bereits für verloren geben. Dabei habe ich mich jetzt nur auf das Wichtigste beschränkt, mir liegen aber noch mehr Zahlen vor. Während z. B. in München einer der beiden Lehrstuhlinhaber (sofern uns überhaupt ein zweiter noch auf den Leim gehen sollte) von Zeit zu Zeit über spanische Literaturgeschichte lesen kann, wobei der praktische Teil der Ausbildung durch zwei Lektoren geleistet werden soll, verfügt die Sorbonne neben ihren drei Ordinarien für spanische Literaturgeschichte noch über fünf Lehrbeauftragte, vier Lektoren, drei Tutoren und acht Assistenten für Spanisch (im neuen Etat wurde soeben die Erhöhung der Zahl der Tutoren auf sechs, der Assistenten auf zwanzig beantragt.)

Es ist leider nicht zu bestreiten, daß an den rückständigen Verhältnissen in Deutschland auch die deutschen Romanisten eine gewisse Schuld tragen. Bisweilen zeigte sich eine Art von Unersättlichkeit, die nichts aus der Hand geben wollte, obwohl das Ererbte nicht mehr erworben und zum Besitz werden konnte. «Es del hortelano el perro: ni come ni comer deja». So manches Mal habe ich aus Kollegenmund den Satz gehört: «Man hat es nirgends so schön, als wo man allein ist!» Aber es ist heute müßig, über Schuldfragen zu sprechen. Man hole vielmehr mit beherztem Zugreifen in Deutschland nach, was seit dem Ersten Weltkrieg versäumt worden ist. So schmerzlich es in vielerlei Hinsicht sein mag: wir müssen heute auch bei uns die sofortige Zerlegung des Faches «Romanische Philologie» in sechs selbständige Fächer fordern:

1.Romanische Sprachwissenschaft (hier erscheint eine Teilung nicht zweckvoll),

2.Französische Literaturgeschichte,

3.Italienische Literaturgeschichte,

4.Spanische Literaturgeschichte,

5.Portugiesische Literaturgeschichte,

6.Rumänische Sprach- und Literaturwissenschaft (bleibt zweckmäßigerweise verbunden).

Die kleineren Bereiche, das Katalanische, das Provenzalische, das Rätoromanische, das Sardische, ferner die Literaturen Lateinamerikas, wären einstweilen dem jeweils nächststehenden der sechs Ordinariate zuzuweisen. Daß auch für das Rumänische ein Ordinariat verlangt wird, obwohl die Literatur dieser Sprache im Vergleich zu den anderen romanischen Literaturen wesentlich jünger ist, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Vertreter dieses Faches auch die Sprachen und Literaturen der Nachbarvölker Rumäniens kennen muß, so daß auch dieses Fach ein gerütteltes Maß an Verpflichtungen in sich schließt. Die Aufteilung in sechs Lehrstühle ist unter dem Gesichtspunkt des Faches getroffen. Unter dem Gesichtspunkt der Studentenzahl wären einzelne dieser Lehrstühle noch zu verdoppeln: nach dem derzeitigen Stand der Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft und für französische Literaturgeschichte, später auch der Lehrstuhl für spanische Literaturgeschichte (was übrigens im Hinblick auf Lateinamerika auch schon vom Fach aus geboten sein wird).

Ich bin mir bewußt, daß meinen Ausführungen zwar die meisten, aber nicht alle Romanisten der deutschen Universitäten zustimmen. Es bedarf daher noch eines kurzen Wortes, um deren Einwände zu entkräften. Auf meinen Vorschlag schreibt mir einer meiner Kollegen: «Sie werden doch unser schönes Fach nicht zerreißen wollen! Ist es nicht herrlich, daß gerade wir Romanisten jedes Semester über eine andere Literatur lesen dürfen? Ich möchte darauf nie verzichten!» Was ist dazu zu sagen? Ganz gewiß würde es ein Verzicht sein; für wen es ein Verzicht nicht wäre und wer unter diesem Verzicht nicht litte, der müßte wohl kein rechter Romanist sein. Aber kommt es denn auf uns und unser Behagen an? Wir sollten diese Frage ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Forschung und der Bedürfnisse der Studenten betrachten. Als Forscher wird der deutsche Italianist, Hispanist usw. erst dann wieder konkurrenzfähig werden, wenn er das Recht hat, sich auf die eine Literatur zu beschränken (wir wollen ja nicht so weit gehen wie Frankreich, wo man eigene «seizièmistes» hat). Und die Studenten haben das Recht, von einem Ordinarius unterrichtet zu werden, der ihnen Semester für Semester aus ihrem Fachgebiet Vorlesungen hält. «Aber», so wendet man ein, «gerade um der Forschung willen bin ich gegen die Zerteilung. War es nicht bisher ein ganz großer Vorzug, daß der Romanist, im Gegensatz zu der Enge des Germanisten und des Anglisten, ein so weites Forschungsgebiet hatte, das sich vom Pazifischen Ozean bis zum Schwarzen Meer erstreckt?» Wer wollte dem Romanisten diese Weite künftig nehmen! Es steht ihm nach wie vor frei, nach Belieben in seinen Veröffentlichungen sich in den verschiedenen romanischen Sprachen und Literaturen zu tummeln. Aber nur ein Teilgebiet soll künftig das Gebiet seiner Verpflichtungsein, alles andere bleibt ihm freigestellt. Denken wir nie an uns, sondern nur an unsere Studenten und an die Vertiefung unserer Forschung, ohne dabei aber die Weite des Blickes zu verlieren!

Da höre ich einen letzten Einwand: «Woher sollen wir die Ordinarien für all diese neuen Lehrstühle nehmen?» Darauf sage ich zunächst: Diese Lehrstühle müssen geschaffen werden, auch wenn sie teilweise noch nicht besetzt werden könnten! Für die akademische Jugend wird es ein großer Ansporn sein, wenn sie sich für jene Einzelfächer habilitieren kann. Daß sie dabei nicht eng und einseitig wird, das wird glücklicherweise durch das Verfahren unserer Habilitationskolloquien verhütet werden können. Ein weiteres Reservoir für die akademische Lehrerschaft ist heute leider fast völlig versiegt. Es kam früher immer wieder vor, daß Philologen, die oft im Lehrkörper der Höheren Schulen tätig waren, ohne Habilitation auf Universitätslehrstühle berufen wurden. Glänzende Namen der deutschen Wissenschaft wären hier zu nennen, wie der Byzantinist August Heisenberg, der Archäologe Ernst Buschor, der Historiker Franz Schnabel und viele andere. Aber warum soll dieses Reservoir heute versiegt sein? Weil die Lehrer der Höheren Schule in schändlicher Weise überlastet sind und überfordert werden. Bei einer Pflichtstundenzahl von 24 Wochenstunden ist es schlechterdings nicht mehr möglich, wissenschaftliche Bücher zu lesen, die Zeitschriften zu verfolgen oder gar wissenschaflich zu produzieren. Früher hatte bei uns der Lehrer der Höheren Schule 18 Wochenstunden zu geben. In Frankreich darf er nicht mehr als 12 Stunden geben, damit er in beständiger Fühlung mit der Wissenschaft sein kann! Gerade unter diesem Gesichtspunkt leidet die Universität schwer an der Belastung ihrer Kollegen von der Höheren Schule. Man mache sich einmal die Mühe und das Vergnügen und sehe sich in einer der alten Gymnasialbibliotheken, soweit sie erhalten geblieben sind, die stattliche Sammlung der «Programme» an! Unsere jungen Kollegen wissen kaum mehr, was ein «Programm» eigentlich ist. Es ist die bibliothekstechnische Bezeichnung der «wissenschaftlichen Beilagen» zum Jahresbericht der Höheren Schulen Deutschlands. Bis zum Jahre 1918 hat jede Höhere Schule Deutschlands alljährlich ein solches «Programm» hervorgebracht, wissenschaftliche Arbeiten, bald aus Geschichte, bald aus klassischer, bald aus moderner Philologie oder aus Mathematik oder aus Physik usw., Arbeiten, die vielfach den Rang einer Dissertation hatten, nicht selten auch gleichzeitig als solche benützt wurden. Zu Beginn des Schuljahres meldete sich einer der Lehrer, der etwas in Arbeit hatte, und übernahm das Programm. Sein Pflichtstundenmaß wurde dann noch eigens verringert, nach einem halben Jahr legte er das Manuskript vor, das dann auf Staatskosten gedruckt und dem Jahresbericht beigefügt wurde. Wie stolz waren wir als Schüler, wenn einer unserer Lehrer das Programm geschrieben hatte, das wir uns sofort kauften, auch wenn wir von den geheimnisvollen mathematischen Kurven, die es enthielt, nicht das Geringste zum Verständnis bringen konnten! All diese höchst verdienstliche wissenschaftliche Arbeit, diese fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Universität und Höherer Schule, unterbleibt seit 1918. Das Band zwischen Schule und Universität, das gerade in Deutschland so segensreich war, ist endgültig zerrissen. Wer es wieder knüpfen wollte, der müßte das Pflichtstundenmaß der Lehrer an den Höheren Schulen wieder auf 18 beschränken. «Videant consules!», so ruft hier der Hochschullehrer den Ministerialreferenten für das Höhere Schulwesen Deutschlands zu. Deutschlands Wissenschaft ist verarmt, wir brauchen wieder die Zusammenarbeit von Höherer Schule und Hochschule. Es ist höchste Zeit, denn, um es noch einmal zu sagen, den Kalten Krieg gewinnt und verliert nicht der Soldat, sondern der Schulmeister!

Es ist auch höchste Zeit, weil die Geduld der Studenten allmählich zu Ende geht: sie wissen, daß ihnen unter den bestehenden Verhältnissen die rechte Ausbildung und Vorbereitung für Examen und Beruf nicht mehr gewährleistet wird. Denn wie im Wissenschaftlichen, so liegt auch im Praktischen das Studium des Französischen, des Italienischen und des Spanischen – um nur die drei großen Prüfungsfächer zu nennen – sehr im argen. Wie sollen in München 950 Studierende der französischen Philologie von einem einzigen Lektor französischer Muttersprache noch sinnvoll zu Konversation, zu Aufsätzen, zu Übersetzungen herangezogen werden können! Die Universität München verfügt über eine einzige Planstelle für ein solches Lektorat! Sollen wir uns dann wundern, wenn Kandidaten im Staatsexamen ein nur mittelschweres Diktat von anderthalb Seiten mit bis zu 65 Fehlern ausstatten und keine einzige fehlerlose Arbeit dabei ist? Oder was soll man dazu sagen, wenn eine Examenskandidatin in ihrem französischen Aufsatz, in dem sie ihre ersten Frankreicherlebnisse schildern soll, harmlos und bieder den Satz niederschreibt: «Madame Lebrun m’a conçu avec beaucoup de plaisir»! Wenn künftig einmal einer ihrer Schüler – denn sie ist trotzdem noch durchgekommen – diesen Satz niederschriebe, sie würde die drei schweren Fehler gar nicht bemerken. Allerdings kann auf diese Weise der Notendurchschnitt der Höheren Schulen sich wieder heben! Mögen alle Verantwortlichen sofort zugreifen! Es wäre lächerlich, «die nächsten Haushaltsverhandlungen» abwarten zu wollen. Nein, hier muß sofort gehandelt werden. Geht auch nur eine einzige Woche verloren, so kann daraus ein nicht wiedergutzumachender Schaden für unser Schul- und Bildungswesen entstehen.