Zur Lusitanistik in der Schweiz

Georges Güntert (Zürich)

Zur Lage der Lusitanistik in der Schweiz

Im Sommer 1996 konnte die Universität Zürich das fünfzigjährige Bestehen ihres Portugiesisch-Lektorats feiern. Unter den Universitäten der Schweiz hat Zürich, wo man seit drei Jahrzehnten Portugiesische Sprache und Literatur studieren und in Lusitanistik promovieren kann, lange Zeit eine Sonderstellung eingenommen. Heute darf es dieses Privileg mit einem zweiten Standort teilen, denn seit 1995 unterhält auch die Universität Genf ein Portugiesisch-Lektorat und schenkt der Lusitanistik – durch regelmäßig erteilte Lehraufträge – vermehrt Beachtung. Unterricht in portugiesischer Sprache und Kultur ist zwischen 1975 und 1990 außerdem an der Hochschule St. Gallen angeboten worden; inzwischen wurden diese Sprachkurse jedoch wieder eingestellt.

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Beim Abwägen der Positionen, die den einzelnen romanischen Sprachen innerhalb der Romanistik zukommen, sind die sprachlich-kulturellen Besonderheiten der Schweiz zu berücksichtigen. Gut ein Viertel der Schweizer spricht eine romanische Sprache als Muttersprache. Für die Gesamtbevölkerung, einschließlich der Ausländer, beträgt der Anteil der lateinischen Minderheit gut 30 %. Anläßlich der Volkszählung von 1990 sprachen 4,375 Millionen Deutsch, 1,322 Millionen Französisch, 524 100 Italienisch, 116 800 Spanisch, 93 800 Portugiesisch und 39 600 Rätoromanisch. Die weitverbreitete Mehrsprachigkeit wirkt sich auf das Niveau der Romanistik in diesem Land sicher positiv aus. Zu beachten sind nun aber folgende Punkte:

-Französisch, Italienisch und neuerdings auch Rätoromanisch gelten alsLandessprachen. Die Schweizer Romanistik hat sich dieser drei Sprachen und ihrer Dialekte schon immer mit besonderer Aufmerksamkeit angenommen, vielleicht aber auch aus diesem Grund die Pflege der Iberoromanistik lange Zeit etwas vernachlässigt. Unter Arnald Steiger erlebte die Hispanistik in Zürich zwischen 1940 und 1958 einen ersten Aufschwung. Nach 1960 – unter dem Einfluß der ersten Immigrationswelle von Spaniern – gelang es ihr, sich an allen schweizerischen Universitäten fest zu etablieren.

-Trotz leicht rückläufiger Studentenzahlen dominiert weiterhin die Franzistik sowohl an den vier Universitäten der Romandie (d. h. in Genf, Lausanne, Neuchâtel und im zweisprachigen Fribourg) als auch an den romanistischen bzw. neusprachlichen Abteilungen der deutschsprachigen Universitäten (Zürich, Basel und Bern sind mit einem Romanischen Institut dotiert; die ETH Zürich unterhält je einen Lehrstuhl für Französische und Italienische Literatur und bietet wie die Universität St. Gallen Sprach- und Literaturkurse in Spanisch an).

-An zweiter Stelle folgt die Italianistik, die bezüglich der Zahl der Studierenden noch vor der Hispanistik rangiert. Dies ist eine helvetische Besonderheit, der bei den nachfolgenden Überlegungen Rechnung getragen werden muß.

-Die Romanistik, ursprünglich eine deutsche Erfindung, hat es in ihrer klassischen Form nur an den deutschschweizerischen Univeristäten Basel, Bern und Zürich gegeben. Eine Tendenz zur Spezialisierung ist aber auch hier festzustellen. In der Romandie herrscht seit je ein anderes Unterrichtssystem: Franzistik, Italianistik und Iberoromanistik bilden dort selbständige Abteilungen oder Institute. Die Romanisten aus der ganzen Schweiz sind indes im «Collegium Romanicum» vereinigt und treffen sich regelmäßig, womit gesagt sein soll, daß zwischen den Universitäten der Deutsch- und der Welschschweiz durchaus vielfältige und enge Beziehungen bestehen.

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Die Stellung der Lusitanistik an den schweizerischen Universitäten ist in entscheidendem Maße durch diese unterschiedliche Strukturierung der romanistischen Fächer in den verschiedenen Landesteilen bedingt. Was das Studium und die Entwicklung der Lusitanistik insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz betrifft, sind drei Etappen zu unterscheiden:

1.Solange die aus dem 19. Jahrhundert stammende vergleichende Romanistik gelehrt wurde, war das Portugiesische ein Teil der Gesamtromania. Zumindest die Linguisten schenkten seinen Besonderheiten (etwa dem flektierten Infinitiv oder den Umlautwirkungen in der Verbkonjugation) durchaus Beachtung. Portugiesische oder brasilianische Literatur wurden jedoch kaum unterrichtet. Nur wer die altspanische Lyrik behandelte, kam um eine Betrachtung der galicisch-portugiesischen Liebesdichtung nicht herum.

2.In einem zweiten Schritt kam es zur Spezialisierung, die eine Aufgliederung der Disziplinen und eine Vermehrung der Lehrstühle zur Folge hatte. Nun entstanden überall neben italianistischen und franzistischen auch iberoromanische oder hispanistische Lehrstühle. War der Inhaber eines iberoromanischen Lehrstuhls ein traditionell breit ausgebildeter Romanist (wie etwa Germà Colon in Basel) oder sogar selbst Lusitanist (wie Gerold Hilty in Zürich oder Gustav Siebenmann in St. Gallen), dann lief das Portugiesische kaum Gefahr, vergessen zu werden. Im Gegenteil: In Zürich und St. Gallen wurden unter den genannten Professoren spezifische Kurse oder Seminare angeboten. In Zürich, wo heute etwa dreißig Lusitanisten studieren, sind es neuerdings sogar vier Dozenten, die sich der Lusitanistik widmen oder sich ihr widmen könnten: der Sprachwissenschaftler Georg Bossong, der Lateinamerikanist Martin Lienhard, der Mediävist Luciano Rossi und der Literaturwissenschaftler Georges Güntert.

3.Die Lusitanistik wird jedoch dort vernachlässigt bzw. überhaupt nicht angeboten, wo die hispanistischen Lehrstühle vorzugsweise auf die neuere spanische Literatur ausgerichtet und von Dozenten besetzt sind, die keine gesamtromanistische Ausbildung genossen haben (z. B. in St. Gallen, Neuchâtel, Lausanne und Bern). Zuweilen tritt das Portugiesische auch in Konkurrenz zum Katalanischen, so in Fribourg, was zwar der Vielfalt der Iberoromania, nicht aber der Stellung dieses Faches förderlich ist.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Abschließend ist zu sagen, daß die Situation des Portugiesischen in der Schweiz eher ungünstig beurteilt werden muß. Der Schweizer Romanist, falls er nicht selbst portugiesischer oder brasilianischer Abstammung ist, lernt Portugiesisch erst als vierte oder fünfte romanische Sprache. Folglich wird immer nur eine verschwindende Minderheit Lusitanistik als Studienfach belegen. Auch das Erlernen der Grundkenntnisse ist mit Schwierigkeiten verbunden. Auf der Mittelstufe, mit Ausnahme gewisser Handelsschulen, wird Portugiesisch nicht angeboten. Sprachkurse gibt es lediglich an Privatschulen. Den Besuchern der Lektoratskurse an der Universität bietet sich indes die Möglichkeit, Stipendien für Ferienkurse und Studienaufenthalte in Portugal zu erhalten.

Was die Zukunft betrifft, scheint die Lusitanistik am ehesten in Zürich und Genf eine Chance zu haben. In Basel ist der Lehrstuhl für Iberoromanistik zur Zeit vakant, so daß für diese Universität keine Prognose gestellt werden kann.