Themenbeschreibung und Aufruf zur Sektionsbildung

Einladung zum 14. Deutschen Lusitanistentag und Aufruf zur Sektionsbildung

Zeitlichkeit(en): Reminiszenzen, Wahrnehmungen, Projektionen

Der 14. Deutsche Lusitanistentag greift als Rahmenthema ein verändertes Zeitbewusstsein auf, das sich zum Beispiel im viel diskutierten Begriff einer „breiten Gegenwart“ (H. U. Gumbrecht) artikuliert. Demzufolge sind sowohl der Historismus als auch der zukunftsgerichtete Sinn für Möglichkeiten in eine Krise geraten. Auch zeichnet sich die „breite Gegenwart“ durch die Kopräsenz multipler Archive der Vergangenheit aus. Gerade mit Blick auf die lusophone Welt gehen wir von der Annahme simultaner und multipler Zeitlichkeiten und damit auch von Konstellationen der Ungleichzeitigkeit aus. Kulturelle, literarische und sprachliche Phänomene bieten einen privilegierten Zugang zu verschiedenen Manifestationen von Zeitlichkeit(en), die sich dem Schema linearer Entwicklungs- und Fortschrittsmodelle entziehen. Wie und warum ragt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein? Inwiefern ist die Vergangenheit am Vergehen gehindert? Wie kehrt sie wieder? Wie wird sie für die Gegenwart nutzbar gemacht oder inszeniert? Vom Sebastianismo bis hin zu Traumata und Ruinen bieten sich hier zahlreiche Möglichkeiten.

Wie werden Phänomene der Dauer, der Wahrnehmung im Modus der „reinen“ Gegenwart beschrieben und repräsentiert? Und wie artikulieren sich Zukunftsprojektionen sowie Imaginationen und historisch orientierte Erkundungen des potenziell Möglichen gerade in einer Zeit, die sich offenbar ganz im Gegenwärtigen eingerichtet hat?

Zeitlichkeit ist jedoch keineswegs eine Programmatik, deren Anknüpfungspunkte sich im Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaft erschöpfen. Auch in der Sprachwissenschaft ist Zeitlichkeit spätestens seit der systematischen Unterscheidung zwischen Synchronie und Diachronie omnipräsent. Die Sprachwissenschaft beschäftigt sich dabei aber nicht allein mit der Frage nach Temporalität und Tempus – also der Zeitlichkeit von Sprache im engsten Sinne –, sondern rückt diese auch in zahlreichen weiteren Teilbereichen zunehmend in den Mittelpunkt. Die enge Verknüpfung von Zeitlichkeit und Sprachwissenschaft wird zwar besonders in der Semantik und der Pragmatik evident, offenbart sich aber nicht minder wirkungsmächtig in klassischen und neueren Ansätzen der internen und externen Sprachgeschichte, der Varietätenlinguistik, der Soziolinguistik, der perzeptiven Linguistik oder der Spracherwerbs- und Sprachverlustforschung. Keinesfalls exhaustiv seien hier nur einige wenige konkrete Beispiele genannt: die für die Soziolinguistik der letzten Jahre so wichtig gewordene apparent time-Hypothese, die noch junge und gleichermaßen vielversprechende  Forschungsrichtung „Sprache und Altern“, die facettenreiche Beschäftigung mit Sprachattrition und heritage-Sprechern, die Hypothese der „kritischen Phasen“ im Spracherwerb oder die chronologische Nachzeichnung sprachlicher Veränderungen auf Systemebene, die dank der immensen Fortschritte der digital humanities und der Korpuslinguistik heute um ein Vielfaches genauer ist als noch vor wenigen Jahrzehnten und mittlerweile zudem auch graphisch – bspw. mit motion charts – attraktiv visualisiert werden kann. Varietätenlinguistische Sektionsvorschläge, die sich z.B. mit der Emergenz endogener Standardvarietäten, soziolinguistischer Variation und Sprachkontakt in der lusophonen Welt befassen, sind folglich genauso willkommen wie solche, die die lusophone Diachronie in den Mittelpunkt rücken oder auf das Portugiesische angewandte Spracherwerbs- oder Sprachverlustthemen ins Zentrum stellen. Explizit ermuntert seien nicht zuletzt auch Sektionsvorschläge, die methodologische Neuerung anstreben, bspw. im Bereich der digitalen Datenaufbereitung und -darstellung.

Die Didaktik des Portugiesischen wiederum arbeitet mit Projektionen der Sprache, die auf Wahrnehmung und Sprecherurteile zurückgehen. Dabei haben sich die Paradigmen der (Fremdsprachen-)Didaktik besonders im letzten Jahrzehnt stark gewandelt, und zwar mit einer enormen Ausdifferenzierung, die auf unterschiedliche Bedürfnisse der Lernenden eingeht. So unterscheidet man zwischen L2- und verstärkt auch L3-Unterricht und Vermittlung der Sprache als Herkunftssprache sowie zwischen regulären Sprachkursen und jenen mit konkreten Zielen (z.B. Wirtschaftsportugiesisch). All dies zeitigt differenzierte inhaltliche Strukturen und Herangehensweisen an die Vermittlung des Portugiesischen. Gleichzeitig stehen die didaktischen Ansätze aber auch im Zeichen der Zeitlichkeit, so dass die klassische Grammatik- und Übersetzungsmethode von neokommunikativen kompetenzorientierten Ansätzen abgelöst wurde und der Fokus auf der kommunikativen Interaktion liegt. Reminiszenzen klassischer Ansätze findet man besonders in der Sprachvermittlung an Hochschulen, wo die Beherrschung grammatischer Strukturen zentral ist – dies ist vor allem auch für eine metasprachliche Kompetenz von Bedeutung. Der Spagat zwischen einem realitätsnahen, anwendungs- und kommunikationsorientierten Unterricht einerseits und einem tiefgründigen Verständnis der Fremdsprache andererseits stellt eine zentrale Herausforderung der Fremdsprachendidaktik in ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vermittlung von Sprache dar.

Wahrnehmung und Perzeption von Sprache und Literatur wiederum konditionieren in wesentlichem Maße die Translation, die sowohl im Bereich der Übersetzung als auch des Dolmetschens stets von ihrer Zeit determiniert wird. Dadurch nehmen die Anforderungen an den professionellen Sprach- und Kulturtransfer stetig zu, da neben der gemein- und fachsprachlichen Kompetenz auch (inter-)kulturelle und historische Kenntnisse wichtig sind. Doch auch die fortschreitende Spezialisierung in der Fachkommunikation sowie durch gesellschaftliche Veränderungen hervorgerufene neue Kommunikationsbedürfnisse prägen das Übersetzen und Dolmetschen im Sprachenpaar Portugiesisch-Deutsch. Das Rahmenthema des 14. Deutschen Lusitanistentags soll somit auch Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Translationswissenschaft zu Reflexion und Diskussion anregen. Dennoch können und sollen auch interdisziplinäre, philosophische, wirtschafts- oder geschichtswissenschaftliche Ansätze das Leitthema der Tagung mit Bezug auf die lusophone Welt aufgreifen. Kongresssprachen sind wie üblich Portugiesisch, Galicisch und Deutsch.

Der DLV und die Universität Leipzig laden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen ein, sich darüber auszutauschen, wie unterschiedliche Texte, Medien und sprachliche Phänomene der lusophonen Welten Zeitlichkeit repräsentieren, imaginieren und erfahrbar machen. Sektionsvorschläge von etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind ebenso willkommen wie Vorschläge von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern und Fachexpertinnen und Fachexperten. Bitte schicken Sie Ihre Vorschläge bis zum 15. September 2020 an die Präsidentin des DLV, Frau Prof. Dr. Doris Wieser (dwieser.fluc@gmail.com). Geben Sie bei Ihrer Einreichung bitte bereits zwei potenzielle Sektionsgäste an, für deren Reisekosten Sie eine (Teil-)Finanzierung anstreben, unter Angabe einer Kurzvita (ca. 5-10 Zeilen) und einem möglichen Thema bzw. einer Begründung des thematischen Bezuges und der Relevanz für die von Ihnen